Predigt vom 2.Februar 2020

Liebe Schwestern und Brüder,
„zwischen den Zeiten“ – das ist, meine ich, der Ort, an dem wir uns heute befinden. Lassen Sie mich kurz erklären, wie ich das meine.

Werfen wir dafür zunächst einen Blick auf den Kalender. Heute ist der 2. Februar. Im Volksmund: Mariä Lichtmess. Unsere Altvorderen haben an diesem Tag eine wichtige Schwelle im Jahreslauf überschritten. Der Winter steckte noch in den Knochen, aber mit neuer Hoffnung und Vorfreude hatten sie schon den Frühling im Blick. Denn auch wenn seit Weihnachten die Tage schon wieder länger werden, jetzt beginnt man es so langsam auch zu merken. Viele von Ihnen kennen sicher noch den Spruch: Mariä Lichtmess, es Spinne vergess, bei Daach zenaacht gess“. Das heißt, das war traditionell der Tag, an dem die Winterarbeiten, also zum Beispiel das Spinnen von Wolle, abgeschlossen waren und die Arbeit auf den Feldern wieder begann. Es war jedes Jahr wieder ein neuer Aufbruch. Und immer war dieser Aufbruch auch mit Ungewissheit und Unsicherheiten verbunden. Wird es in diesem Jahr günstiges Wetter geben? Wird die Ernte im Herbst uns und unsere Kinder ernähren können?

Dieser besondere Standort „zwischen den Zeiten“ spiegelt sich auch im Kirchenjahr wieder. Heute, am 2. Februar feiern wir auch das Fest der Darstellung Jesu im Tempel. Mit diesem Tag endet nun in unserer Kirche der Weihnachtsfestkreis. Vielen Menschen ist das gar nicht mehr bewusst, dass die Weihnachtszeit so lange dauert. In fast allen Häusern ist der Christbaum und der Weihnachtsschmuck längst verschwunden. Bei uns zuhause leuchtet noch ein Herrnhuter Stern, aber der wird heute auch abgehängt. Da will dieser Tag heute noch einmal eine Brücke schlagen zurück zum Weihnachtstag und zur Botschaft vom Kommen Gottes in unsere Welt. Aber „zwischen den Zeiten“ auch hier. Denn gleichzeitig schauen wir schon voraus auf das Leiden und Sterben Jesu und die neue Hoffnung, die uns von Ostertag entgegen scheint. Das Evangelium von der Verklärung Jesu ist ja schon so ein Ausblick auf Ostern. Auch mit Blick auf das Kirchenjahr betreten wir also ab kommenden Sonntag neue Wege.

Und erlauben Sie mir schließlich noch ein persönliches Wort: Auch ich selbst finde mich heute „zwischen den Zeiten“ wieder. Gerade ist für mich ein recht langer Weg zu Ende gegangen. Und jetzt liegt vor mir ein ganz neuer Weg – mit Ihnen gemeinsam, hier in St. Arnual. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich darauf schon lange freue und dass ich froh bin, dass es jetzt losgeht. Aber ich glaube, dass jeder verstehen kann, dass es auch ziemlich aufregende und aufwühlende Tage sind. Denn der Weg der vor mir, vor uns, liegt ist ja weitgehend unbekannt. Wir wissen nicht, was in der Zukunft liegt; eine gewisse Unsicherheit liegt also auch in dieser Situation, wenn wir jetzt zusammen neue Wege gehen.
In so einem Raum „zwischen den Zeiten“ bewegen sich auch die Menschen, an die die Worte unseres heutigen Predigttextes ursprünglich einmal gerichtet waren. Ich lese aus dem Buch der Offenbarung an Johannes im ersten Kapitel die Verse 9-18:

Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen. 10 Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune, 11 die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea. 12 Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter 13 und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, der war angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. 14 Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme 15 und seine Füße gleich Golderz, wie im Ofen durch Feuer gehärtet, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; 16 und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht. 17 Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot; und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte 18 und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.

Wir befinden uns in einer Zeit etwa 70 Jahre nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Die Christen stehen damals vor existentiellen Herausforderungen. Zum einen hat sich herausgestellt, dass die Erwartung, dass Jesus sehr bald wiederkommen wird, um sein Reich endgültig zu errichten, immer noch nicht eingetreten ist. Die Menschen mussten sich neu orientieren, sie mussten sich darauf einrichten, dass sie noch länger in dieser Welt leben werden. Und dazu kamen die grausamen Christenverfolgungen unter Kaiser Domitian. Die Anfänge der christlichen Gemeinde waren noch zum Greifen nah und doch musste man nach vorne schauen auf einen unbekannten Weg. Der Schwung der ersten Generation ging allmählich verloren. Also Unsicherheit und Ungewissheit, ganz sicher auch Angst auf der Schwelle zu etwas Neuem. Vielleicht auch Fragen und Zweifel. Ist Jesus vielleicht doch weit entrückt, für uns Menschen unnahbar, unerreichbar?

Johannes stellt sich den Menschen, an die er schreibt, als „Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis“ vor. Er hat die gleichen Fragen, er versteht die Menschen. Er teilt mit ihnen seine Erfahrungen mit Gott. Er will ihnen neuen Mut zu geben und Kraft, für die Wege, die sie gehen werden. Heute reihen wir uns als Kirchengemeinde in die Reihe der sieben Gemeinden ein, an die Johannes schreiben soll.

Machen wir einen Schnitt und schauen uns an, wie es heute aussieht. Ausgrenzung und Verfolgung um Jesu Willen; das ist etwas, was wir heute – zumindest in unseren Breiten – nicht mehr zu fürchten brauchen. Was die Christen damals erlebt haben, das kennen wir, zumal meine Generation nur aus Geschichtsbüchern. Und doch ist die Distanz gar nicht so groß. Wir erleben ja auch, wie unser christlicher Glaube in der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verliert. Die Menschen suchen sich die Antworten auf ihre Fragen immer öfter anderswo. Das Angebot ist ja groß. Das schmerzt. Und wir stehen dieser Tatsache oft doch ziemlich hilflos gegenüber. Wir erleben, dass es immer schwerer wird, Pfarrstellen zu besetzen, weil kaum noch jemand bereit ist, den Dienst am Wort Gottes wahrzunehmen. Das scheint nicht mehr attraktiv zu sein. Auch das schmerzt. Wenn wir die Statistiken für die kommenden Jahre und Jahrzehnte betrachten, dann kann es einem schon mulmig werden. Wie wird denn in zehn, 20, 30 oder gar 50 Jahren unsere Kirche aussehen? Da ist so viel im Wandel; da warten neue unbekannte Wege auf uns und die, die nach uns kommen. Da werden wir neuen Mut brauchen; wo kommt der her?

Aber auch in der kleinen Welt um uns herum machen wir solche Erfahrungen. “Zwischen den Zeiten” – ich muss bei dieser Standortbestimmung an unsere Konfirmanden denken. Ich glaube, sie können dieses Gefühl ganz gut nachempfinden. Wo gehören wir eigentlich hin? Auf der einen Seite sind sie keine Kinder mehr – aber auf der anderen Seite sind sie eben auch noch längst nicht erwachsen. Einerseits wird viel von ihnen erwartet, andererseits trauen wir Erwachsenen ihnen aber nicht allzu viel zu. Das ist eine schwere Zeit. Sie sind hin und her gerissen zwischen “nicht mehr” und “noch nicht”. Alles befindet sich im Umbruch, sie müssen ihre eigene Persönlichkeit finden und dabei ecken sie ziemlich oft auch an. Junge Menschen fühlen sich oft ausgegrenzt und alleingelassen. Das ist eine schwierige Zeit, in der sie Begleitung und Beistand brauchen. Den bekommen sie natürlich von Familie und Freunden, aber gerade da sind ja oft die Reibungspunkte. Auch sie brauchen Mut. Wo kommt der her?

“Zwischen den Zeiten”, manch einer kennt dieses Gefühl der Unsicherheit, diesen Schwebezustand aus ganz anderen Zusammenhängen. Da wird zum Beispiel einer mitten im Alltagsgeschäft krank. Von einem auf den andern Tag kann er seine Aufgaben nicht mehr erfüllen, wie man das von ihm gewohnt ist. Und schon ist er in so einer Situation. Das Leben ist nicht mehr wie es war, aber noch ist völlig unklar, wie es weitergehen wird. Krankheit, aber auch Alter haben in unserer Gesellschaft keinen Raum. Wie stellen uns die Medien denn das Leben dar? Da sehen wir nur jung gebliebene, gesunde Menschen, die das Tanzbein schwingen und Feste feiern, die Sport treiben und keine anderen Sorgen haben. – Alles, was in solche Schablonen nicht hineinpasst, findet hinter verschlossenen Türen statt. So werden Menschen ins Abseits gedrängt, sie gehören nicht mehr dazu. Ich habe lange in der Krankenhausseelsorge gearbeitet; ein Satz eines Patienten ist mir immer im Gedächtnis geblieben: “Früher war ich immer in Gesellschaft und hatte viele Menschen um mich; seit ich krank bin, passen meine Freunde in eine Telefonzelle.” Andere ziehen sich selbst zurück, weil sie spüren, dass die Krankheit ein Makel ist. Sie brauchen neuen Mut. Wo kommt er her?

Wir können die Erfahrungen der Christen in Kleinasien vor zweitausend Jahren heute nicht mehr eins zu eins teilen. Aber Beispiele wie diese, die sich mühelos erweitern lassen, zeigen uns, dass es auch bei uns Menschen gibt, für die Bedrängnis kein Fremdwort ist. Solche Erfahrungen haben auch Einfluss auf unser Verhältnis zu Gott. Auch unser Glaube wird auf die Probe gestellt.

In so einer Situation bekommt der Seher Johannes die außergewöhnliche und vermutlich auch sehr furchteinflößende Szene zu sehen, von der wir gerade gehört haben. Im ersten Moment wird sie ihn vielleicht an den Thronsaal des römischen Kaisers erinnert haben. Eine mächtige Gestalt in prachtvollem Gewand und leuchtendem Gesicht beherrscht die ganze Szene. Johannes ist so erschrocken oder überwältigt, dass er erst einmal in Ohnmacht fällt.

Was die Lebensgeister des Johannes wieder weckt, was ihm Mut und Kraft zurückgibt, ist dann nicht diese machtvolle Erscheinung; es ist eine liebevolle Geste: „Und er legte seine rechte Hand auf mich.“ So hat er es später aufgeschrieben. Es tut ihm gut, dass ihn einer anfasst, vorsichtig, respektvoll; vielleicht legt er ihm die Hand auf die Schulter oder den Arm, um ihn vorsichtig aus seiner Ohnmacht zurückzuholen. Und zu dieser Geste kommen Worte. Johannes hört jemanden reden. Und die Worte, die er hört, sind ihm und uns vertraut. „Fürchte dich nicht!“

Fürchte dich nicht! – Das sind die Worte, die im Evangelium so oft an den Scheidewegen gesprochen werden. „Zwischen den Zeiten“, wenn etwas Neues beginnt. Der Engel spricht sie zu Maria, als er die Geburt Jesu ankündigt. Die Hirten auf dem Feld hören sie in ihrer Not, als das Kind in der Krippe zur Welt gekommen ist. Jesus selbst sagt sie zu seinen Jüngern, als er im Sturm auf dem Wasser zu ihnen kommt und sie in Panik sind. Der Auferstandene sagt sie zu den Jüngern, um sie zu trösten, als sie noch in tiefer Trauer über seinen Tod sind.

Fürchte dich nicht! – Das ist die zentrale Botschaft, die Johannes den Menschen seiner Zeit und uns mitgeben will. Der Kaiser in Rom kann noch so sehr toben und wüten. In unserer Welt und in unserer Kirche kann sich vieles Verändern im Lauf der Zeit. Aber da ist einer, der in allem Wandel fest steht, ein Fels im Sturm der Zeiten, einer auf den bedingungslos Verlass ist. Nämlich Jesus Christus, der sagt: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“

Manchmal haben wir Mut und Unterstützung nötig und eine Stimme, die uns auffordert, uns umzudrehen und uns sagt: „Fürchte dich nicht!“ Wenn uns dann jemand an die Hand nimmt oder auch nur vorsichtig unseren Arm berührt und uns damit zeigt: Ich stehe an deiner Seite. Ich begleite dich. Ich bete für dich. Ich erinnere dich daran: Wir haben einen Gott, der stärker ist alle Mächte dieser Welt – dann können auch wir wieder aufstehen, die nächsten Schritte wagen und uns getrost auf die neuen Wege machen, auf die Gott uns stellt.