Predigt, Gottesdienst vom 3. November 2019

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen

Der für heute vorgesehene Predigttext steht im 1. Buch Mose, Kap. 8, die Verse 18-22, und Kapitel 9,12-17. Die Sintflut ist überstanden, die Überlebenden verlassen die Arche Noah. 

Dieser Text steht im Zusammenhang der biblischen Geschichten, die wir Urgeschichten nennen. Sie beginnen mit der Erschaffung der Welt und des Menschen, bald folgt der Brudermord und am Ende, Kapitel 11, steht die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Es fängt alles sehr gut an, das meiste geht aber nicht gut aus

Warum nennen wir sie so – Urgeschichten? Nicht weil sie sozusagen uralt sind, sondern weil sie ursprünglich bzw. original sind – und somit etwas über die Welt sagen, in der wir leben, und über den Menschen. 

In den Urgeschichten dürfen wir also nichts Veraltetes, Vergangenes, zeitlich Überholtes erwarten, sondern wir können erwarten, in recht verstandener Weise uns selbst heute zu begegnen. Die Vorsilbe „Ur“ in den Urgeschichten ist also nicht zeitlich, sondern wesentlich zu verstehen. 

Wenn wir sie hören, ziehen sie uns in ein Gespräch über das Wesen der Welt und des Menschen. 

In ein Gespräch: Das heißt, sie erteilen uns keine autoritären, strikt zu befolgenden Anweisungen, sie vermitteln uns keine überzeitlichen Glaubenswahrheiten, sondern sie wollen uns so an-sprechen, dass wir aus-sprechen, wie wir uns selbst und unsere Welt erleben, wie wir uns verstehen und verhalten. 

In Geschichten taucht man ab, je spannender sie sind, desto tiefer, bis man wieder auftaucht mit einem Schatz, den man auf dem Grund einer Geschichte gefunden hat, einem Schatz, den man an die Oberfläche des eigenen Lebens bringt und fortan in das eigene Leben investiert. Das Ziel heißt Lebens-Bereicherung. 

Hören wir nun den Predigttext:

So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, 

19 dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. 

20 Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. 

21 Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. 

22 Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. 

Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: 

13 Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. 

14 Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. 

15 Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe. 

16 Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, das auf Erden ist. 

17 Und Gott sagte zu Noah: Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch auf Erden. 

Herr, Segne unser Reden und unser Hören durch deinen Geist. Amen

II

Liebe Gemeinde,

das Jahr ist in seinem vorletzten Monat angekommen. Es neigt sich dem Ende zu. Es ist Herbst. Wir, die wir in dieser schönen Kirche versammelt sind -, die allermeisten von uns, mich eingeschlossen -, stehen ebenfalls im Herbst unseres Lebens. Wir blicken also bereits auf einen Gutteil unseres Lebens zurück. Wir sind Spätjahrs-Menschen

Wir freuen uns, wenn der Herbst unseres Lebens goldene Tage bereithält und müssen hinnehmen, wenn sich Wolken über unserem Kopf zusammenballen. Wir haben viele Facetten des Leben kennen gelernt, sind lebenserfahren, vielleicht sind manche von uns durch Zeiten gegangen, in denen sie das Leben hart anging -, vielleicht nicht so, dass wir lebensmüde waren, aber so, dass der Sinn uns eine Zeitlang abhanden kam. Vielleicht wurde uns mal übel mitgespielt, vielleicht waren wir mal überrascht oder gar entsetzt über das, was wir selbst anderen angetan haben. Wir kennen den Geschmack von Glück und Leid, Schuld und Vergebung, Hass und Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, Mut und Feigheit, Verlieren und Finden.  

Und da vernehmen wir nun diesen Satz im Predigttext: „Denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ 

Ist das ein Urteil, das wir annehmen? Wollen wir das über uns hören? Wollen wir hinnehmen, dass so über unsere eigenen Jugendlichen und Kinder geurteilt wird, sie seien von klein auf „böse“? Regt sich da nicht sofort unser Schutzinstinkt? Möchten wir sie nicht in den Arm nehmen und fragen: ‚Wer sagt denn so was?’ Wir lieben sie, und sie lieben uns, wir können nichts an ihnen finden, das zu diesem harschen Urteil über sie berechtigte. Und wollen wir uns das wirklich selbst nachsagen lassen, wenn wir Spätjahrs-Menschen auf den Frühling und Sommer unseres Lebens zurückblicken? Ist es das, was im Wesentlichen über uns zu sagen ist? Böse gewesen zu sein – und es zu bleiben bis an unser Lebensende? Schießt in dieser Geschichte Gott mit seinem Urteil nicht über das Ziel hinaus?  

Liebe Gemeinde, ich sagte schon, das ist eine Geschichte, und wenn sie ein Urteil wie dieses enthält, müssen wir nicht einfach mit dem Kopf nicken, wir können auch den Kopf schütteln. Man muss sich nicht unbedingt den Schuh anziehen, den ein anderer einem hinhält. 

Und es ist nicht die Aufgabe eines Predigers, biblischen Sätzen mit einem Kanzelton von oben herab Nachdruck verleihen zu wollen. Ich stelle das Urteil in den Raum, wir hören es, damit jeder und jede mit sich zu Rate gehen kann. Es ist ein Satz über unser – über mein und dein  – Herz, liebe Zuhörerin, lieber Zuhörer. Und wie es in deinem Herzen aussieht, das weißt du selbst am besten – und manchmal scheint einem das eigene Herz unzugänglich. Also, was soll ich sagen -, nehmen Sie das Urteil aus dieser Geschichte aus der Kirche mit nach Hause, wägen sie es in ihrem Herzen, meditieren sie es.

Ich habe dieses Urteil bei der Predigtvorbereitung auch meditiert. Darüber möchte ich Ihnen Auskunft geben. Nicht über die von mir so oder so beurteilte Qualität meines Herzens. Sondern darüber, wie ich Menschen über andere Menschen urteilen höre. Und da hat in den letzten Jahren die Tendenz überaus stark zugenommen, zu sagen: ‚Böse – böse, das sind die Anderen.’ Das scheint mir die verbreitete Art unter zu sein, wie das Urteil Gottes in dieser Urgeschichte von den Menschen heute aufgenommen und in die Streitgespräche unserer eigenen Zeit hinein– und weiter-gesprochen wird. 

Die Anderen. Alle – oder zumindest ein Großteil der – Welt scheint in eine Art archaisches, also altertümliches und längst überwunden geglaubtes Stammesdenken zurückzufallen. In dem nach der Verortung in Drinnen oder Draußen gedacht und gehandelt wird. Nach dazugehörig oder ausgeschlossen. So wird die Welt, in der man lebt, nur noch schwarz-weiß gesehen. Daraus folgt dann die Devise: Zuerst meine Gruppe, mein Stamm, dann die anderen. Auf englisch und auf ganze Staaten bezogen: America first. Oder Italien zuerst. Oder die Türkei zuerst. Oder die „Deutschblütigen“ zuerst

 Dann werden Grenzmauern gegen Migranten für viele Milliarden Dollar an der amerikanischen Grenze zu Mexiko geplant, dann wird gegen die Kurden als angebliche Terroristen in Syrien zu Felde gezogen, dann wird Schiffen mit Flüchtlingen an Bord auf dem Mittelmeer die Einfahrt in einen Hafen verweigert, dann werden Moscheen wie kürzlich in der Stadt Christchurch in Neuseeland und Synagogen wie zuletzt in Halle angegriffen und Menschenleben vernichtet, weil die Täter ihren rassistischen, antisemitischen und chauvinistischen Wahn ausleben. 

Dann wird im Internet gehetzt gegen ethnische oder religiöse Minderheiten. Da heißt es, der weiße Mann werde verdrängt infolge von Feminismus, sinkenden Geburtenraten und einwandernden Migranten. 

Tonangebende Teile der AfD sehen uns von „Überfremdung“ und einer „Umvolkung“ bedroht, die „Heimat“ komme uns angeblich abhanden. 

Auf die Annahme, die Anderen seien die Bösen, folgt die Aufteilung in wertvolle und weniger wertvolle Menschen. Das war der Kern der Ideologie der Nazis. Und dann fraß und frisst sich der Hass wie ein Krebsgeschwür durch unsere Gesellschaft und spaltet sie und reißt uns alle mit sich fort. 

Darüber, liebe Gemeinde, müssen wir reden. Dagegen sollten wir an-reden.  Davor uns und unsere Kinder hüten: so tiefe Gräben zwischen Volksgruppen, Nationen, Religionen aufzureißen. Laut dazwischenreden, wenn Chauvinisten, Rassisten, Rechtsextreme und Antisemiten die Meinungsführerschaft unter uns übernehmen möchten. 

Wenn man, liebe Gemeinde, diese Urgeschichte mit dem zentralen Satz, der Mensch sei böse von Jugend auf, in unserer Gegenwart also richtig verstehen will, dann darf man ihn nicht ausspielen wollen gegen andere Einsichten der modernen Psychologie oder Soziologie. Aus diesen Richtungen können wir ja die Auskunft vernehmen, es sei eine bestimmte frühkindliche Erziehung oder bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, die den Charakter des Menschen formten – zum Guten oder Bösen hin. Nein, biblische Geschichten liefern oder ersetzen keine wissenschaftlichen Erklärungen. 

Die Urgeschichte lässt Gott reden über den Menschen, dass er böse sei. Heutzutage redet der Mensch vornehmlich darüber, dass der andere Mensch der Böse sei, den man in den Griff kriegen müsse. 

Es ist diese problematische Akzentverschiebung, die wir zur Sprache zu bringen haben, wenn wir über diese Bibelgeschichte sprechen.  

III

Wie viele Predigten könnte man über diese Erzählung halten, in der wir konfrontiert werden mit dem Moment, in dem Noah mit den Seinen und den Tieren die Arche verlässt. Ich will mich aber nur noch auf einen zweiten Satz konzentrieren. 

„Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, das auf Erden ist.“ 

So wollen wir uns auch von diesem Satz noch ansprechen lassen und ihn meditieren, liebe Gemeinde. Wenn Sonnenlicht und Wasser zusammenkommen, dann spannt sich unter dem Himmel über die Erde ein bunter Regenbogen. Wie oft ist dieses Zeichen über einer bestimmten Landschaft schon gemalt –  und natürlich unzählige Male fotografiert worden. 

Unsere Augen leuchten, wenn wir dieses Naturphänomen am Himmel auftauchen sehen. Und wenn wir zusammen mit jemand anderem draußen im Freien oder drinnen am Fenster sind, dann öffnet sich spontan unser Mund und wir sagen, ‚schau, den wunderschönen Regenbogen’; denn wir möchten das Erlebnis des Schönen sofort mit einem anderen Menschen teilen. 

  Für einen Moment sind wir – ergriffen. Eingenommen. Aufgeschlossen. Zugewandt. Staunend. Ruhig. Friedlich. Befriedet. Dabei ist der Bogen in alter Zeit das Zeichen der Feindseligkeit und des Krieges gewesen. In einer Zeit, als sich die Menschen noch mit Bogen und Pfeilen gegenseitig totgeschossen haben. Die alte Erzählung weist uns also darauf hin, dass Gott das Kriegsgerät niedergelegt, es umfunktioniert hat: der Bogen soll nicht mehr Angst und Schrecken verbreiten, sondern Trost und Entzücken. 

Auch uns, die wir heute Morgen hier sitzen – ich habe die meisten in diesem Kirchraum zu Anfang meiner Predigt ja als Spätjahrs-Menschen bezeichnet –, auch uns kann der Regenbogen trösten und entzücken, wenn wir ihn wahrnehmen. Er kann uns sagen: Gott ist mit uns älteren Menschen im Bunde. Am Ende unseres Lebensbogens wartet nicht das ewige Dunkel. Sondern die Quelle eines unerschöpflichen Lichtes, in das wir hineingenommen werden. 

Und wenn wir nun diesen Trost vernommen haben, Kinder des Regenbogens, Kinder der umfassenden Liebe Gottes zu sein, ob wir nun alt oder jung sind -, dann müssen wir beim Hören dieser Urgeschichte über uns Menschen erst recht erschrecken

  Wenn Gott keinen Krieg mehr gegen seine Geschöpfe führt und sie nie mehr mit einer Sintflut jemals zu bestrafen gedenkt für ihre Boshaftigkeit – warum verhalten wir uns als Menschheit insgesamt und immer wieder auch als einzelne nach der Devise nach-mir-die-Sintflut

Das ist ja eine Haltung, mit der ich zum Ausdruck bringe, dass es mir egal ist, was ich mit meinen Worten und Taten anrichte. Eine Haltung, mit der die gerade lebende Generation sich keine Gedanken darüber macht, ob sie mit ihrem Lebenswandel der jeweils nachfolgenden Generation nicht alle Lebenschancen wegnimmt. Aus dieser Haltung spricht der reinste Egoismus, der sich über die Rechte und Bedürfnisse anderer hinwegsetzt: ‚Ich zuerst’

Doch unsere alte Erzählung fragt uns heute: Mensch, wie verantwortlich gehst du mit deiner Welt, deinem Lebens- und Entfaltungsraum um? 

Wie gedenkst du zu hinterlassen, was du nicht geschaffen, sondern ererbst hast und dir übergeben worden ist? 

Warum willst du gegen den Sachverstand der ganz großen Mehrheit der Wissenschaftler erzählen, schuld am Klimawandel habe nicht der Mensch, sondern das Andere – die Natur selbst? 

Der oder das „Böse“ ist immer – der oder das Andere: Nein!, liebe Gemeinde, nein! ruft es mir aus dieser Erzählung vom Tag eins nach dem Ende der Sintflut entgegen. Nein!, wir müssen auch nicht darüber streiten, ob der Mensch nun von Jugend auf böse sei oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass die Menschen alle gleich sind. 

Dass keiner  und keine vom Bund Gottes ausgeschlossen ist. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die aber heutzutage wieder in großer Gefahr ist. Diese Botschaft unserer Ur-Erzählung kommt uns abhanden, wenn wir unter uns Grenzen errichten und uns zu Einteilungen hinreißen lassen – hier die Hochwertigen, dort die Minderwertigen. 

Der Regenbogen ist das Zeichen der Solidarität Gottes mit der Menschheit. Und die ist so bunt wie der Regenbogen. Die Vielfalt der Farben macht die Schönheit der Erscheinung aus.  Zusammenhalt, Vertrauen und bisweilen auch Toleranz sollten daher unser Zusammenleben prägen. 

Und wenn wir beim nächsten Mal die Kamera auf den Regebogen richten, dann könnten wir ja auch einmal daran denken: Das Schöne, das wir da aufnehmen, enthält auch eine Verpflichtung, die wir für uns annehmen. Amen.  

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen